Spirituelle Begleitung Sterbender

Das Leben müssen wir ein ganzes Leben lang lernen –

und was dich vielleicht noch mehr erstaunen mag:

Das ganze Leben lang muss man sterben lernen.

Seneca

Der Philosoph Seneca macht deutlich, um was es in den kommenden 30 Minuten gehen wird. Ums Leben und Sterben lernen. Denn beides gehört zusammen. Sterben ist ein Teil des Lebens.

Den Veranstaltern des Symposiums bin ich dankbar, dass sie in diesen Nachmittag das Thema „Begleitung Sterbender“ aufgenommen haben. Spirituelle Begleitung Sterbender ist ein Teil des „Care-Ansatzes“: Von den Bedürfnissen der Menschen her denkend geht es um „Sorge“ im Sinne von „Mit- und Fürsorge“. High-Tech-Medizin antwortet auf ein Bedürfnis der Menschen.

Mit dem Schlagwort „Spiritualität“ sind weitere Bedürfnisse umschrieben.

So möchte ich von den spirituellen Bedürfnissen der Menschen ausgehen, wenn ich über Sterbebegleitung rede. Von dem, was Menschen sich erhoffen und ersehnen, erwünschen und erträumen.

Spiritualität ist ein „Containerwort“ geworden – ein Schlagwort, hinter dem sich dies und jenes verbergen kann. Spiritualität ist ein „Suchbegriff“ (Fulbert Steffensky), mit dem beschrieben wird, was Menschen – ich sage bewusst jetzt: alle Menschen – suchen. Jede und jeder packt rein, was er gerne drin hätte.

Der Kontext aus dem ich komme und in dem ich lebe und arbeite ist die Evangelische Tradition und Kirche. Ich bin Pfarrer, habe hier im Filstal fast zehn Jahre lang die Menschen in der Gemeinde Uhingen begleitet „in Freud und Leid“, bin anschließend in die Evangelische Akademie gewechselt und habe dort seit 1994 medizinethische und gesundheitspolitische Fragen bearbeitet. Ich bin Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin, ich war bis in dieses Frühjahr Mitglied des Gesundheitsrates Südwest (wir haben uns mit gerontologischen Fragen beschäftigt), die AIDS-Seelsorge der Württembergischen Landeskirche habe ich über 7 Jahre lang begleitet. Seit 2004 bin ich nun Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll.

Ich erzähle dies, weil dieser Erfahrungshorizont mein Denken und Handeln bestimmt. Und in diesem Kontext fülle ich das Stichwort „Spiritualität“, das im Brockhaus erst 1973 auftaucht. Selbst im großen Lexikon „Religion in Geschichte und Gegenwart“ konnte man es bis in die 3. Auflage in den 60er Jahren vergeblich suchen. Erst die 4. Auflage, die 2004 erschienen ist, gibt einen Überblick.

Spiritualität ist ein „Containerbegriff“, in den jede und jeder das rein füllt, was er oder sie sich darunter vorstellt.

Zur gemeinsamen Verständigung schlage ich vor, dass wir – mit dem Psychologen Rudolf Sponsel – Spiritualität verstehen als (mehr oder minder bewusste) Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen, besonders der eigenen Existenz und der Selbstverwirklichung im Leben. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass der Mensch mit Leib, Seele und Geist seinen Ursprung einer göttlichen oder transzendenten Instanz verdankt.

Spiritualität ist ein lebenslanger Weg, um dem Geheimnis des Lebens (wo kommen wir her, wo gehen wir hin?), unserer Existenz und Gott auf die Spur zu kommen. Sein Schicksal zu verstehen (wozu bin ich, wie ich bin?) und ein Leben in Zufriedenheit, Gelassenheit und Liebe zu führen (einen Sinn im Leben zu finden).

Spiritualität ist damit geformte und gebildete Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit in mehrere Richtungen.

Zunächst geht es um Aufmerksamkeit auf die „Immanenz“; auf das, was mich ausmacht. Mit Martin Luther gesprochen: Dass ich von Gott geschaffen bin mit Augen und Ohren, Vernunft und allen anderen Sinnen (Erklärung zum 1. Artikel des Credos), ebenso mit den Dingen des täglichen Bedarfs versorgt. Wenn ich dies so formuliere, gehört zur Spiritualität die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse – körperlicher, geistig/geistlicher und seelischer Art. Und das Wissen, dass es Wechselwirkungen gibt – auch ein psychosomatisches Zusammenspiel von Körper und Seele.

Die Aufmerksamkeit ist aber nicht nur auf mich gerichtet, auf das, was mich ausmacht, sondern auf die ganze Kreatur – Luther formuliert nicht umsonst: Mich geschaffen hat samt allen Kreaturen … Mitgeschöpflichkeit ist damit ernst genommen.

Und dann geht es um „Transzendenz“: Wahrnehmung Gottes und der geistigen Wirklichkeit. Das Innewohnen Gottes in jedem und jeder ernst zu nehmen. Die Wirklichkeit, die über unser Erfahren und Denken hinausgreift, den Überschuss an Hoffnung zu bewahren. Ernst zu nehmen, dass kein Mensch im Vorfindlichen aufgeht. Christlich formuliert: Die Auferstehungshoffnung lebendig zu halten. Gerade im Sterben.  – Das ist Religion: Rückbindung an den Urgrund des Lebens.

Diese doppelte Aufmerksamkeit, diese geformte Aufmerksamkeit ist Teil aller spirituellen Bewegungen.

Und diese Haltung führt zu Ritualen, die in den verschiedenen Traditionen unterschiedlich ausgeprägt sind. Rituale – und das meint: Vertrautes und Bekanntes – sind ein Grundbestandteil einer spirituellen Haltung. Auch weil wir uns überfordern, je neu in Krisenzeiten etwas zu erfinden, was trägt und hält. Es muss „alltagstauglich“ sein, erprobt und erfahren worden sein, wenn spirituelle Begleitung hilfreich sein will.

In der Esoterik und New-Age-Bewegung ist Spiritualität insbesondere mit „Sensationen“ verbunden, mit Erfahrens- und Erlebniszwängen. Mit Herausgehobenem und Überwältigendem. Mit Paranormalem – Nahtod und Außerkörper-Erfahrungen. Teilweise auch im Gegensatz zu allem Vernünftigen und Vernunftbegründetem. Als ob die Aufklärung alles zerstört hätte.

In der christlichen Tradition ist Spiritualität nichts Sensationelles. Sondern: Lebensalltag – eben Haltung der Aufmerksamkeit. Und Bereitschaft, sich einzulassen.

Die christlichen Klöster hatten schon immer „Spirituale“ – das heißt Mönche oder Nonnen sind beauftragt, als Begleiterinnen oder Begleiter auf dem Weg der gerichteten und geformten Aufmerksamkeit zur Verfügung zu stehen. Um Leben und Sterben zu lernen – wie Seneca meint.

So verstehe ich meine Rolle in den nächsten Minuten als „Spiritual“ – als Begleiter für Sie, Anreger - vielleicht auch Aufreger …

Aufmerksamkeit auf Immanenz – auf das Vorfindliche.

1.  Sterben als Teil des Lebens – Leben als Fragment

"Jedes Stadium unseres Lebens stellt immer auch einen Bruch dar und einen Verlust – und ist nicht nur Wachstum und Gewinnen. Insofern sind wir immer auch die Ruinen unserer Vergangenheit."  (Klaus Dörner) [1]

Mit diesem Gedanken wehre ich mich gegen die „Tyrannei des gelingenden Lebens“. Und Sterbens. (vgl. Gunda Schneider-Flume).

Es ist geradezu befreiend, wenn ich nicht mit dem Ideal des Vollkommenen leben muss, sondern die Fragmenthaftigkeit wahrnehmen kann und für wahr und richtig nehmen darf.

          Fragmente der Vergangenheit

Unser Leben besteht immer aus Brüchen und Abbrüchen. Die einlinige Biografie gibt es nicht … nicht mehr. Dietrich Bonhoeffer, der als erster in der Theologie das Stichwort Fragmenthaftigkeit des Lebens eingeführt hat, schreibt seinem Vater aus dem Gefängnis: „… ein Leben, das sich im Beruflichen und Persönlichen voll entfalten kann und so zu einem ausgeglichenen und erfüllten Ganzen wird, … gehört wohl nicht mehr zu den Ansprüchen, die unsere Generation stellen darf. …. Das Unvollendete, Fragmentarische unseres Lebens empfinden wir darum wohl besonders stark. …“

Und das, was er schreibt, können alle füllen mit Wahrnehmungen – ich verwende bewusst das Wort, das ich in der Definition von Spiritualität auch verwendet hatte. Wahrnehmungen von Brüchen und Abbrüchen, Neuansätzen und Vorläufigkeiten in dem eigenen und dem „fremden“ Leben

          Fragmente der Gegenwart

Auch in der Gegenwart ist von Fragmenthaftigkeit zu reden … Beziehungsstress, berufliche Begrenzung oder Misserfolge und nicht zuletzt gesundheitliche Probleme. Alles ist Teil des „normalen Lebens“. In der Begleitung von Menschen nehme ich dies alles aufmerksam wahr, ebenso meine eigene Begrenzung und Ruhe oder Unruhe, mein Gelingen und Scheitern.

          Fragmente der Zukunft

Am einfachsten sind die Fragmente der Zukunft oder in der Zukunft deutlich zu machen beim Sterbeprozess: Träume und Hoffnungen werden nicht erfüllt, nicht alles bleibt möglich; es gibt Abbrüche, Ungelebtes und Unversöhntes. 

 

„Leben als Fragment zu verstehen, heißt nicht, erniedrigt zu werden, auf die Unvollkommenheit festgelegt zu werden, also klein gemacht zu werden. Leben als Fragment zu verstehen, soll vielmehr eine Befreiung sein, die uns von falschen Idealen löst. Verstehen wir unser Leben als Fragment, können wir aufatmen und leben.“ (Henning Luther) [2]

 

Unser Leben ist Fragment – und das ist gut so.

Spirituelle Begleitung nimmt dies wahr und ernst – und erliegt damit nicht der Versuchung, alles perfekt machen zu wollen.

Mir würde es besser gefallen, wenn Luther und Bonhoeffer vom Torso des menschlichen Lebens reden würden, nicht vom Fragment. Denn im Torso ist Schönheit erkennbar – mitten in allem Beschädigten. Ich gestehe, dass die gezeichneten Gesichter von alten Menschen für mich mehr ausstrahlen, als das glatte, gestylte mancher Schönheitskönigin. Gelebtes Leben erkennen und wahrnehmen.

 

In der Sterbebegleitung kann es nicht darum gehen, das Leben zu runden – sondern das, was jetzt ist, zu begleiten und zu leben. Und damit bin ich beim zweiten Punkt.

2.  Was kann Sterbebegleitung leisten – was muss sie leisten?

Der Philosoph Francesco Petrarca hat wunderbar formuliert: Ein schönes Sterben ehrt das ganze Leben. Und damit eine Erwartungshaltung aufgebaut und einen Druck formuliert. Jetzt muss auch noch das Sterben gelingen. Und im Sterben sich das Leben runden … Das Leben, von dem ich vorher sagte, es ist und bleibt fragmentarisch und unvollendet. Muss ich das runden?

Francesco Petrarca lebte im 14. Jahrhundert, an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance.  Und das Zitat ist bezeichnend für die damals herrschendes Grundverständnis und die anstehenden Veränderungen: Menschen waren „gesichtslos“. Die Gesichter mittelalterlicher Menschen kennen wir nicht: Von Bauern und Stadtarmen fertigte niemand Porträts.

Doch auch die Gesichtszüge von Königen und anderen hohen Herren waren Künstlern und Betrachtern egal: Ein Herzog hatte eben auszusehen wie ein Herzog, ein Bischof wie ein Bischof. Das Individuelle blieb hinter dem Stand, wir würden sagen: hinter der sozialen Rolle, zurück.

Das Individuum zählt nicht – Nur der Stand zählt

Stände - wie das Rittertum, Institutionen - wie die Kirche: sie galten den Menschen des Abendlandes über fast ein Jahrtausend hinweg als die realen, fest gefügten Dinge, neben denen das Individuelle verblasste. Wozu also Gesichter naturgetreu in Stein meißeln oder auf Leinwand malen? Wozu das Individuum, der einzelne Mensch, wenn doch nur das Ganze seines Standes, seiner Familie zählte?

Und das bedeutet dann in der Konsequenz:

Wozu die Angst vor dem Tod, der doch nur das Ende einer kaum wirklichen, individuellen Gastrolle darstellt?

Erst der idealtypische Mensch der Renaissance wurde sich seiner Freiheit und seiner schöpferischen Möglichkeiten bewusst, ja entdeckte sich erstmals als Individuum.

Das so genannte neuzeitliche Menschenbild wird erkennbar:

und bei Francesco Petrarca in der konsequenten „Überhöhung“ dieses Denkens:

Und deshalb liest man und frau bei Petrarca: „Ein schönes Sterben ehrt das ganze Leben.“

Was muss Sterbebegleitung leisten, was wäre der „spirituelle“ Ansatz?

Niederlagen, Leiden, Krankheit, Schmerz, Versagen, Misslingen sind Teil des normalen Lebens. Sie beschreiben keine Minderung des Lebens oder der Lebensqualität, sondern auch Vertiefung und Bereicherung.

Ziel der spirituellen Sterbebegleitung kann demnach nicht sein, das Sterben „gelingen“ zu lassen. Ziel ist, einen Menschen auf seinem je eigenen Weg zu begleiten und zu unterstützen.

Und das meint dann: Das Tempo, die Themen, die Handlungen und Rituale / Zeichenhandlungen … all das „bestimmt“ der Sterbende und nicht der Begleiter/die Begleiterin.

Nein, ich weiß nicht, wie der Sterbeprozess des anderen aussehen wird. Und ich weiß auch nicht, was für ihn richtig ist. Meine Aufmerksamkeit ist gefragt. Meine Aufmerksamkeit, die jetzt gerichtet ist auf den, der mir in der und durch die Begleitung zum Nächsten geworden ist (Barmherziger Samaritaner Lk 10).

Der Soziologe Reimer Gronemeyer machte auf humorvolle Weise bei den Süddeutschen Hospiztagen 2003, die von Caritas, Diakonie, Katholischer und Evangelischer Akademie veranstaltet wurden – und jährlich werden – klar: Wenn ich einmal am Sterben bin, sagte er, wenn ich einmal am Sterben bin, dann hoffe ich, dass ich eine Krücke an meinem Bett habe. Mit der will und werde ich jeden wegprügeln, der mir sagen will, wie ich nun zu sterben habe. 

Oder anders – etwas „neutraler“ formuliert: Jeder Mensch hat das Recht auf sein eigenes Leben und Sterben. Spirituelle Sterbebegleitung nimmt dies wahr und öffnet Horizonte.

3.  Rahmenbedingungen – oder: verwirrendes Beziehungsgeflecht

Begleitung heißt: der begleitete Mensch bestimmt Rhythmus und Tempo, Thema und Handlungen. Nicht meine Spiritualität und meine Rituale sind gefragt, sondern seine.

Zwischenruf: Selbstverständlich komme ich nicht als weißes Blatt. Ich bin nicht „leer“ im Sinne: ohne Inhalte und Eigenes.  Ich habe Vertrauen und Hoffnung, Vertrauen auf Gnade und Erlösung. Aber das, was ich mitbringe und was mir hilfreich ist, ist zweitrangig. Entscheidend ist das, was dem anderen wichtig ist und was er mitbringt. Seine Bilder, seine Sprache, seine Religion, sein Glaube, seine Hoffnung.

Ich lebe vom Überschuss an Hoffnung – und den lebe ich im Dasein für andere und mit anderen.

Bevor ich drauf schaue, welche Menschen ich begleite, ist ein systemischer Blick notwendig.

Denn: Menschen sind immer Teil eines Systems, das die „Spirituelle Begleitung“ beeinflusst. 

Der Sterbeprozess findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist eingebettet in vielfältige Beziehungen, die den Prozess des Abschiednehmens unterstützen und fördern – oder behindern und blockieren können. Seelsorgliche/spirituelle Sterbebegleitung muss das wahrnehmen.

Angehörige kommen häufig in der Mehrzahl vor: mehrere Kinder, Geschwister, möglicherweise LebenspartnerInnen … all diese Beziehungen werden mehr oder weniger in der Sterbephase aktiviert. Manchmal auch nur in der Erinnerung des Sterbenden, häufige durch Besuche, Gesprächen und Kontakte. Und so groß die Zahl der Beziehungen ist – auch Nicht-Kontakt ist eine Form von Beziehung – so vielfältig ist die Qualität der Beziehungen. Je nachdem, wo die Begleitung stattfindet, sind die einen Angehörigen auch präsenter als andere …

Und ein Thema kommt dazu: Möglicherweise haben die Angehörigen/Kinder des Sterbenden sich gerade in der eigenen Biographie mit der „Individuation“ auseinanderzusetzen (C.G. Jung: Das Thema der mittleren Lebensjahre ist die Annahme der eigenen Endlichkeit. Persona soll abgelegt werden, Person soll werden.) Das heißt, dass das Erleben des Sterbens des Vaters/der Mutter die eigene psychische Dynamik verstärkt – vice versa.

Auch Pflegende kommen im Plural vor … weil Ambulante Pflegedienste genauso wie Kliniken und Hospize mit Schichtdiensten arbeiten. Und all diese Menschen haben ihren je eigenen Zugang zum Sterben – und damit zum sterbenden Menschen.

Dieselbe gilt für ÄrztInnen, allerdings nehme ich bei dieser Berufsgruppe – je nach Disziplin – eine starke Abwehr des Themas Sterben wahr. Aus dieser Abwehr, die ihre Ursache im Gefühl hat, das Sterben sei die Niederlage der eigenen Professionalität, kommt m. E. auch die Rede vom: „Da kann man nichts mehr machen!“

„Zingg sagte mir, für ihn sei der Tod immer nur der Gegner, nichts anderes. Jeder muss so sprechen, wenn es um den Tod des anderen geht, besonders der Arzt. Zum eigenen Tod aber kann man ein neutraleres Verhältnis gewinnen.“ Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod. 1988

Hinzu kommen SeelsorgerInnen und ehrenamtliche Besuchsdienstgruppen, MitarbeiterInnen von Hospiz- oder SitzwachengruppenNachbarschaftshilfe und Diakonie-Sozialstationen.

Ganz zum Schluss noch die NachbarInnen und Bekannten, die sich im Feld bewegen.

Auch hier können reale Begegnungen stattfinden – manches Mal auch nur Erinnerungen an Begegnungen. Als Beispiel: Im Sterben wird an den schweren oder leichten Tod der Nachbarin damals erinnert … sehnsüchtig oder voller Schrecken, so werde es doch nicht werden.

Alle diese Menschen haben eine Beziehung, stehen in Beziehung zum Sterbenden – und stehen häufig genug auch in Beziehungen untereinander, so dass ein verwirrendes Beziehungsgeflecht entsteht.

Wenn ich es bildlich darstelle, sieht es gewaltig nach einem Spinnennetz aus – und mitten drin hängt/ befindet sich der Sterbende, der seine eigenen Themen und sein eigenes Tempo, seine Rituale und seine Spiritualität braucht … und darin eine gute Begleitung. 


Wegbegleiter

Um unseren Pfad durch das Gestrüpp zu finden

Um nicht irre zu werden in der Wüste

Um Orkane unbeschadet zu überstehen

Um im Morast nicht zu versinken

Um durch Schlangenbisse nicht zu sterben

Brauchen wir hilfreiche Gefährten

Die uns den Weg durch das Dickicht bahnen

Die uns Oasen zeigen

Die uns wetterfest machen

Die uns festen Halt geben

Die uns Heilmittel verabreichen

Die uns begleiten auf dem Weg des LEBENS.

Annette Feige

4.  Sterbeprozess

Im nächsten Schritt konzentriere ich mich auf den sterbenden Menschen und frage nach dem, was ihn bewegt. Schließlich sind seine Bedürfnisse in einer spirituellen Begleitung handlungsleitend.

Der Sterbende erlebt einen biologischen und einen psychisch-spirituellen Prozess.  Wir alle träumen vom sanften Entschlummern – abends im Bett einschlafen, morgens im Himmel aufwachen – am liebsten im Kreis der Menschen, die einem nahe stehen; und wissen genau, dass dem selten so ist:

(Biologisch-medizinisches zum Sterben). Der Chirurg und Medizinhistoriker Sherwin B. Nuland zeigt in seinem Buch (Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? München 1996), auf welche Weise bestimmte Krankheiten das Leben nehmen und beschreibt schonungslos die biologische und klinische Realität. Doch er entwirft kein Horrorgemälde, sondern entmythologisiert das Sterben und hilft uns, die Furcht vor dem Unbekannten zu überwinden. Nulands Blick auf den Tod ist hart, ernst und klar, aber auch voller Mitgefühl und Hoffnung.

Veränderte Körperfunktionen, veränderte Wahrnehmungsmöglichkeiten, Phasen der geistigen Präsenz und Phasen der Distanz … all das sind Schritte auf dem Weg des Sterbens. Nachlassender Hunger und Durst … Sensibilität gegenüber dem, was im Umfeld geschieht, „große Ohren“, wenn am Sterbebett gesprochen wird – und was gesprochen wird … Ist das jetzt nur biologisch-medizinisch – oder bereits wieder im Grenzbereich der Psychosomatik?

Idealtypisch wird der psychisch- seelische Sterbeprozess in verschiedene Phasen aufgeteilt, diese bringen unterschiedliche Themen und Aufgabenstellungen für die Wegbegleiter, erfordern unterschiedliche Grundhaltungen.

Die Fülle der Modelle, die sich mit Sterbephasen beschäftigen, ist unübersehbar.

Bahnbrechend sind die Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross, die Trauerprozesse untersucht und daraus ein Phasenmodell des Trauerns entwickelt hat. Dies kann auf den Umgang mit Krisen- und Krankheitsprozessen allgemein und auch auf Sterbeprozesse adaptiert werden und findet sich modifiziert bei Ingrid Riedel, Daniela Tausch-Flammer und anderen wieder.

Ich stelle Ihnen ein Phasenmodell vor, das sich auf Elisabeth Kübler-Ross bezieht. Dies mache ich um deutlich zu machen, welche spirituellen Bedürfnisse eine Begleiterin / einen Begleiter von Menschen am Ende ihres Lebens erwarten können. Das Individuelle und Spezifische des einzelnen konkreten sterbenden Menschen soll damit nicht aufgehoben werden.

          Zuerst: Nicht wahrhaben wollen: „Ich doch nicht!“

ein Schritt im „Sterbe“prozess ist das Nicht-Wahrhaben-Wollen und Können. Das Verdrängen-Wollen: Manchmal wird dies auch als Schockzustand beschrieben. „Ich doch nicht!“ „Das kann nicht wahr sein.“

Die Versuchung für die Begleiterinnen und Begleiter ist, Realitätsbezug herzustellen. Das heißt: mit Zahlen, Daten und Fakten konfrontieren; allerdings ist die äußere auf Fakten reduzierte Wirklichkeit eines, die innere Wirklichkeit ein anderes.

Spirituelle Begleitung Sterbender gibt der inneren Wirklichkeit – der Wahrnehmung Raum … 

Übrigens: Die Phasen dürfen wir uns nicht vorstellen als Treppe, die man stetig nach oben geht, sondern es sind eher Stationen, an denen Menschen in Krisensituationen des Lebens und eben auch des Sterbens immer wieder vorbeikommen. 

          Starke Gefühle: Wut, Aggression, Zorn …

„Warum ich? Ich bin doch ein guter Mensch gewesen?!“ Warum jetzt?!“

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!?!“

Starke Gefühle sind of schwer auszuhalten; Sterbende werden in diesen Zeiten oft nervend und nörgelnd erlebt, unzufrieden mit der Welt und mit Gott, und das bekommen die Menschen ab, die in der Nähe sind.

Spirituelle Sterbebegleitung weiß und kennt Verzweiflung: die Psalmen der hebräischen Bibel sind ein wunderbares Beispiel dafür, dass Zorn und Wut zum Leben gehören – auch Wut und Zorn über den Gott, den wir mit Jesus Vater nennen und nach Jesus als „Liebe“ definierten.

Übrigens: Nicht alle Menschen können negative Gefühle bei sich selbst zulassen. Und ausdrücken; die christliche Tradition hat da auch eine Schattenseite. Da finden sich Liedstrophen wie „Gib dich zufrieden und sei still …“ oder „Was Gott tut das ist wohlgetan …“ – wie soll und darf ich mich da dann aufregen? Auch wenn man sich selbst verbietet, die Gefühle auszusprechen, dann sind sie dennoch da. Etwas, von dem man sich einbildet, es darf nicht sein, das dennoch da ist, verursacht Schuldgefühle oder Scham.

          Verhandeln

„Wenn ich schon sterben muss, dann will ich doch wenigstens noch die Konfirmation, Hochzeit, Weihnachten, das Pokalendspiel oder ..... erleben.“

„Wenn ich davon komme, dann werde ich …“

Um Aufschub wird gebeten, verhandelt, neue Konditionen überlegt. Gott wird zum Partner.

„Vater, wenn es dein Wille ist, so lass doch diesen Kelch an mir vorübergehen.“

Wer in der Phase des Zorns sehr skrupulös mit seinen Gefühlen umgeht, wer sich selbst Wut und Zorn untersagt, ist geneigt nun sich zu arrangieren und zurückzuziehen: „Ich erlebe das, was ich verdiene.“

Spirituell-geistliche Begleitung weiß um die menschliche „Krämerseele“; sie lässt sich nicht auf den Handel ein, erspürt aber die Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich in den Wünschen zeigen, und nimmt  dies wahr und ernst.

Übrigens: An manchen Stellen kann man „helfen“ in der Begleitung: Sorgsames und achtsames Zuhören kann erkennbar machen, was hinter Wünschen steckt. Und dann die Sehnsüchte aufnehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Weihnachten kann zum Symbol für Familientreffen werden, weil da immer die Tochter aus England kommt. 

          Trauer / Depression

Spätestens jetzt wird die Fragmenthaftigkeit des Lebens erkennbar. Das ungelebte Leben. Die unerfüllten Sehnsüchte und Hoffnungen, die unterdrückten Bedürfnisse … Und die Erfahrung von Schuldigwerden und anderen etwas schuldig bleiben. „Ja, ich …“

Der Sterbende, der sich mit seiner Kriegsvergangenheit konfrontiert sieht und Schießen und Töten wieder erlebt / erleidet …

Die krebskranke Mutter, die ihre noch kleinen Kinder „zurücklassen“ muss …

Der sterbende Mann, der seine Frau wegen einer jüngeren verlassen hat …

Die Frau, die das Bett nicht mehr verlassen kann und auf Pflege angewiesen ist, die nicht mehr selbst auf die Toilette kann, nicht mehr selbst essen … Verlust von Möglichkeiten wird hautnah erfahrbar und macht trauern … 

Spirituelle Sterbebegleitung kennt den Schmerz der Endlichkeit; sie weiß vom sukzessiven Abschiednehmen, den vielen kleinen Toden … und sie erträgt die Trauer und depressive Verstimmung / Depression. Das Wissen um die „Ewigkeit“, um „Aufgebhobensein bei Gott“ überspringt nicht den Abschiedsschmerz.  

Übrigens: Trauer und Depression kann auch ganz leise sein: stumm und verstummt. Apathisch und versteinert. Ebenso hysterisch in Weinkrämpfen sich äußern … beides ist normal – und beides ist gut so. Wobei physiologisch die fließenden Tränen Prozesse erleichtern, Weinen können hat etwas Reinigendes.

          Einwilligung und Zustimmung, Resignation

„Nicht mein, sondern dein Wille geschehe..:“ „Ja, ich sterbe.“

Resignativ kann das formuliert werden – oder aktiv zustimmend. Man kann ja doch nichts machen – oder: Das war mein Leben.

Menschen, die in dieser Sterbephase sind, sind in der Regel sehr müde und sehr zurückgezogen. Und ziehen sich immer weiter zurück. Besuche werden anstrengend – für den Sterbenden. Es wird zuviel – insbesondere dann, wenn gequatscht und getratscht wird, wenn Kommunikation stattfinden soll …

Fast archaisch ziehen Menschen sich im und zum Sterben zurück. 

Übrigens: Angehörige begleiten den sterbenden Menschen liebevoll, sind sozusagen rund um die Uhr dabei und in den fünf Minuten, in denen der sterbende Mensch allein ist – Toilette oder Telefon oder …, stirbt er dann und das löst häufig eine ganze Menge Schuldgefühle aus. Nur: Das war sein Leben und ist sein Sterben.

Spirituelle Sterbebegleitung ist „einfach“ da – und lässt Menschen gehen. 

Es gibt Texte, die diesen psychisch-spirituell-geistigen Weg der Trauer und der Sterbenden gut nachzeichnen. Psalmen der hebräischen Bibel kennen den Prozess – und die heilsame Wirkung, wenn Prozesse gelebt und durchlebt werden können und dürfen.

Es ist keine Treppe, die im Sterben geradlinig nach oben gegangen wird – sozusagen himmelwärts. Es ist eher eine Spiralbewegung mit Wiederholungen und Rückschritten … Insofern sind die Psalmtexte dann wieder idealtypisch, wenn sie von der Klage und dem Zorn über die Trauer zur Zustimmung kommen.

Einen Psalmtext lese ich, Verse aus dem 22. Psalm in der Übertragung von Martin Buber 

Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen,
warum bleibst Du fern meines Hilferufes
und den Worten meines Schreiens?!

"Mein Gott" rufe ich bei Tag,
und Du antwortest nicht;
selbst nicht in der Nacht,
ich finde keine Ruh'.

Du aber bist der Heilige,
der da thront über Israels Lobgesängen.
Auf Dich haben unsere Väter vertraut;
sie vertrauten Dir, und Du hast sie errettet.
Sie schrien zu Dir auf und durften entkommen;
sie vertrauten auf Dich und wurden nicht zuschanden.

Ich aber, ein Wurm bin ich, und kein Mensch,
der Leute Spott, vom Volk verachtet.
Alle, die mich sehen, verspotten mich,
verziehen die Lippen, schütteln den Kopf.

Ja, Du bist es,
der mich aus dem Mutterschoß kommen ließ,
der mir Geborgenheit gab an meiner Mutter Brust.
Auf Dich, HERR, bin ich angewiesen,
seit ich aus ihrem Schoße kam;
schon vom Schoße meiner Mutter an bist Du mein Gott.

HERR, nie bleibe fern von mir,
denn nahe ist die Bedrängnis
und kein Helfer ist da.

Wie Wasser bin ich hingeschüttet,
alle meine Knochen wollen sich von mir trennen.
Weich wie Wachs ist mein Herz geworden,
zerschmolzen ist es in meiner Brust,
trocken wie eine Scherbe ist meine Kraft,
meine Zunge klebt fest an meinem Gaumen.

Du bettest mich in Todesstaub.

Wie Hunde haben sie mich umstellt,
eine Horde von Übeltätern bedrängte mich,
sie fesselten mich an Händen und Füßen;
zählen kann ich all meine Knochen.

Du aber, o HERR, bleibe mir nicht fern;
Du meine Stärke, eile und stehe mir bei
mit Deiner Hilfe.

Entreiße meine Seele dem Schwert,
mein Leben vor dem Griff des Hundes,
befreie mich aus dem Rachen des Löwen,
vor den Hörnern der wilden Büffeln rette mich,
weil Du mich erhörst.

Deinen Namen will ich künden meinen Brüdern,
inmitten der Gemeinde will ich Dich preisen:
"Die ihr den HERRN fürchtet, preiset Ihn!
Alle aus dem Stamme Jakobs rühmet Ihn!
Erschauert vor Ihm ihr Kinder Israels!
Denn ER hat nicht verachtet,
nicht verschmäht das Elend der Armen,
nicht verborgen vor ihm Sein Antlitz,
hat vernommen den Aufschrei des Bedrängten."

Essen sollen die, die im Elend leben,
und sie sollen satt werden.
Den HERRN sollen preisen, die Ihn suchen!
Aufleben soll euer Herz für immer!

Meine Nachkommen sollen Ihm dienen,
sollen erzählen von Gott meinem HERRN
dem kommenden Geschlecht
und künden von Seinem gerechten Walten
dem nachgeborenen Volk und sagen: dass ER es hat getan.

Bewegungen beschreibt der Beter, Hin und Her, Auf und Ab, Vor und Zurück – vom „Mein Gott, mein Gott, warum …“ bis hin zum „weil du mich erhörst“ und „Er hat es getan“.

Die Phasenmodelle machen es den Begleiterinnen und Begleitern einfacher, zu verstehen, was in Sterbenden vor sich geht – und helfen, das Rechte zu tun … hoffentlich. Denn: Wenn man nichts mehr medizinisch im Blick auf Heilung/Gesundung tun kann, ist noch viel zu tun!

5.  Spirituelle Sterbebegleitung – die Begleiterin / der Begleiter

Wenn man nichts mehr tun kann, ist noch viel zu tun!

Der Mensch ist immer mehr als das, was in der konkreten Situation zu sehen und zu erleben ist.

Spirituelle Sterbebegleitung steht für dieses „Mehr“ – und will Menschen helfen, dies in die jeweilige Situation zu integrieren.

Theologisch formuliert: Der Überschuss an Hoffnung trägt durch das Sterben in den Tod. Und hält immer die Tür offen, die Tür zum Leben „nach dem Tode“, die Tür zum Jenseits.

Wenn ich recht sehe, haben Menschen, wenn sie an das Sterben denken, Angst vor dem Alleingelassen werden und vor Schmerzen.

Allein gelassen zu sein in der Wohnung oder im Zimmer im Krankenhaus. Niemanden zu haben, der aushält.

Und deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen, die Nähe brauchen und Unterstützung, dass diese die Begleitung angeboten bekommen, die sie wünschen.

Vorab habe ich Spiritualität definiert als Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen der eigenen Existenz und seiner Verwirklichung im Leben. Spiritualität ist ein lebenslanger Weg, um dem Geheimnis des Lebens (wo kommen wir her, wo gehen wir hin?), unserer Existenz und Gott auf die Spur zu kommen. Sein Schicksal zu verstehen (wozu bin ich, wie ich bin?) und ein Leben in Zufriedenheit, Gelassenheit und Liebe zu führen (einen Sinn im Leben zu finden).

Ich nenne die höhere Instanz „Gott“ – und interpretiere Gott auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition, die Erlösung, Gnade und Heil kennt.

Mit diesem Vorverständnis begegne ich Sterbenden: Erlösung, Gnade und Heil bestimmen meine Grundhaltung einer seelsorgerlichen, spirituellen Begleitung.

Erlösung – ich beziehe das zunächst nicht auf die Erlösung von Schmerzen. Auch wenn in vielen Todesanzeigen steht: er oder sie wurde erlöst.

Ich verstehe Erlösung breiter: Befreiung von dem, was belastet und bedrängt, die umfassende und ganzheitliche Herausnahme des Menschen aus einem Zustand der Entfremdung, Bedrohung und Unfreiheit sowie das Hineingenommenwerden in einen Status des endgültigen Befreit- und Angenommenseins.

Nicht dass Erlösung erst und ausschließlich durch den Tod geschieht, sie ist im Leben erfahrbar – aber sie gilt auch an der Grenze zum Tod. Und Erlösung ist nichts, was ich schaffen muss, sondern etwas, was mir geschenkt ist. „Siehe, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ (Jes 42). Damit wird nochmals deutlich: Es geht in der Begleitung nicht um ein Machen, sondern um ein Sein: Dasein.

Gnade ist vorauslaufend und zuvorkommend: Vor allem anderen – so zumindest in der protestantischen Theologie – gilt Gnade. „Aus seiner Fülle haben wir genommen Gnade um Gnade.“ (Joh 1) – macht deutlich, dass menschliches Leben nicht nach dem beurteilt wird, was geleistet wurde, sondern dass wir aus der Fülle heraus „Heil“ erfahren und in Gott das Vorläufige und Fragmentarische aufgehoben ist und vollendet wird. Vollendung ist nicht Perfektionierung und Vollkommenheit.

Dies lässt mich in der Begleitung Sterbender da sein – und manches auch mittragen und stellvertretend ertragen: die Wutausbrüche, die sich auf Gott beziehen und den Pfarrer treffen; die Verzweiflung und die stille Trauer … das ist Mensch-Sein und das darf sein. Das hat sein Recht und seinen Ort.

Sterbebegleitung, spritituelle Sterbebegleitung steht stellvertretend für die immer größere Gnade und das immer weitere Heil und die Erlösung.

Es ist bewusst so fordernd formuliert, ob wohl ich vorher vom „Sein“ und nicht vom „Machen“ geredet habe. Ich weiß auch, welche Herausforderung die Begleitung Sterbender ist, insbesondere deshalb, weil diese häufig in den Überstunden geschieht.

Sie fordert neben aller Fachlichkeit meine Person und berührt mich in meiner Existenz, denn sie konfrontiert mit eigenen Sorgen, Ängsten, Hoffnungen, Erfahrungen. Hinzu kommt bei ÄrztInnen, dass Sterben scheinbar das Versagen der eigenen Zunft dokumentiert. Sie merken, ich sehe das aber anders.

Spirituelle Sterbebegleitung bedeutet auf alle Falle: über die Ziele des medizinischen Handelns nachzudenken.

Weil Seelsorge und spirituelle Sterbebegleitung vom Überschuss an Hoffnung ausgeht, von Erlösung und „Heilung“, Heil-Werdung in und durch Gott kann sie helfen, beim

          „das Haus bestellen“;

          das eigene Leben annehmen;

          Loslassen. 

„So ist es gut, früh genug zu lernen, dass Leiden und Gott keine Widersprüche sind, sondern eher eine Einheit. Für mich ist der Gedanke, dass Gott selbst leidet, immer eine der überzeugendsten Lehren des Christentums gewesen. Ich denke, dass Gott dem Leiden näher ist als dem Glücklichsein, und Gott im Leiden zu finden, gibt Frieden und Ruhe und ein starkes und mutiges Herz.“ (Dietrich Bonhoeffer)

„Aufgabenliste“:

          Erleichterung - physisch: High-Tech und Palliativ-Care

Hier hat spirituelle Begleitung eine „Wächterfunktion“: Pflegende und Angehörige an die Möglichkeiten zu erinnern – und ggf. auch diese Optionen einzufordern, wenn – warum auch immer – hier zurückhaltend agiert wird.

          Geschichtsbearbeitung und Vergangenheitsbewältigung – Suche nach Gottes Spuren

Zur Begleitung gehört, die Lebensgeschichte aufzugreifen und ernst zu nehmen. Das, was erzählt wird, Verwundungen, die wir im Leben davon getragen haben.

Heimatvertrieben; vergewaltigt; geschieden; Kind(er) verloren; Traumberuf nicht erlernt, nicht lernen dürfen; … die Gefahr ist, dass wir das in der Begleitung nicht aushalten, wenn es in großer Massivität kommt und gerne mit „Aber“ reagieren: „Aber die Tochter hat doch nun einen tollen Job!“ oder „Aber es gab doch auch gute Zeiten“ … May be – ja; zunächst geht es um das Aushalten und Ertragen …

Und auch / oder auch: den Traummann geheiratet; erfolgreich gearbeitet; berühmt gewesen; hübsche Kinder, die ihren Weg gehen; nie krank gewesen …

Auch da kenne ich bei vielen das „Aber“: Da muss doch noch was sein … was anderes … und dann das verzweifelte Bohren und Suchen … Forget it … erlebtes Leben wiederholen – wieder her holen, das ist Aufgabe der spirituellen Sterbebegleitung und in all dem „Gottes Spuren“ zu entdecken – wie es in einem neueren Kirchenlied heißt: „Wir haben Gottes Spuren festgestellt auf unsern Menschenstraßen, Liebe und Wärme in der kalten Welt, Hoffnung, die wir fast vergaßen. Zeichen und Wunder sahen wir gescheh’n in längst vergangen Tagen. Gott wird auch unsre Wege geh’n – uns durch das Leben / Sterben tragen.“

          Trost: „High-Touch“ und Spirituelle / Seelsorgerliche Begleitung

Was hilft?!? – Was ist spirituelle Begleitung

          Dasein und Zuhören und darin Gottes Dasein in allem erhoffen.

          Ernstnehmen – und in Distanzbleiben, d. h. nicht wertend oder bewertend.

          Zulassen, loslassen, Abschied nehmen und gestalten

          Vertraute Rituale / Texte (Gebete, Lieder, Segen)

Es geht ums Erinnern, „Weite“ wird ermöglicht, Sterbebegleitung hält aus und hört zu, nimmt Gefühle ernst und lässt Wut, Trauer, Freude, Hoffnung zu; dadurch werden „Türen offen gehalten“ oder geöffnet.

Hilfreich sind dabei vertraute Rituale, Bekanntes:

Ich erinnere mich daran, wie eine Frau, von der alle dachten, sie sei schon sehr weit weg gegangen, beim Psalm 23 begonnen hat, die Lippen mitzubewegen … und beim Segen, den ich mit der segnenden Hand auf der Stirn gesprochen und mit dem Kreuzzeichen abgeschlossen habe, liefen Tränen aus den geschlossenen Augen. Vertrautes … Bekanntes. Erstaunlich, an was Menschen sich erinnern und was sie in ihren letzten Atemzügen spüren.

Ich sehe darin allerdings auch zunehmend die Schwierigkeit. Denn was haben wir, wenn traditionelle Texte und Lieder nicht mehr bekannt sind und nicht mehr erinnert werden können, nicht mehr wiederholt werden … was trägt dann? 

Übrigens finde ich es ganz gut, dass in manchen Kliniken die Menschen, von denen man weiß, dass es eine längere Begleitung geben wird, nach dem gefragt werden, was ihnen wichtig und heilig ist, so dass die Begleiterinnen daran anschließen und aufbauen können. Neben die übliche Anamnese gehört m. E. eine Wertanamnese, bei der nach dem Tragenden und Haltenden gefragt wird, bei der Wünsche und Hoffnungen, Befürchtungen und Sorgen benannt werden können. Vielleicht auch, welche Musik man gerne hört. Dies ist oder wäre wohl schon der Beginn einer Begleitung …

Der Überschuss an Hoffnung trägt – hoffentlich immer wieder neu in der spirituellen Sterbebegleitung. Ein Überschuss an Hoffnung, von dem wir heute bereits leben.

6.  Wunsch eines Sterbenden

[Tragt mich nicht auf die Intensivstation.

Schließt mich nicht an ein Sauerstoffgerät an.

Verschont mich mit euren Apparaten.

Lasst irgendeinen Menschen zu mir kommen:

Vielleicht die Frau, die morgens

mein Krankenzimmer wischt und die Flure bohnert:

Sie soll meine Hand halten.

Tragt mich nicht auf die Intensivstation!]

Ich möchte meine letzten Tage und Stunden

nicht mit dem technischen Fortschritt verbringen.

Ich möchte nicht vor Bazillen geschützt, chemisch rein sterben,

sondern an der Hand eines menschlichen Menschen,

an der vielleicht noch der Staub der Arbeit haftet.

Elisabeth Lingenhoff-Deventer

Joachim L. Beck
Pfarrer

Geschäftsführender Direktor
Evangelische Akademie Bad Boll
73087 Bad Boll
Tel.: 07164 79207
Mail: joachim.beck@ev-akademie-boll.de

[1] Dörner, Klaus, Leben als Fragment. zit. in: Feddersen, Jan, Eine Menge Alternativen. in: Runge, Rüdiger (Hrsg. im Auftrag des Deutschen Evangelischen Kirchentages), Kirchentag 99. gesehen – gehört – erlebt. Gütersloh 1999. S. 100.

[2] Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. In: Wege zum Menschen 1991

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